Pacos Mutmachgeschichte
Paco ist ein wunderschöner Dalmatiner. Ein Dalmatiner, der mit einem Jahr eine ganze Menge Kraft hatte, wenn er an der Leine zog. Auch klang seine Stimme ganz schön bedrohlich, wenn er Passanten, Kinder oder Hunde angebellt hat. Insgesamt eine Situation, die schwer an den Nerven und Kräften von Frauchen Lea zerrte.
Foto © Lea Schröder und Merle Schröder
Heute ist Paco meist an entspannter Leine unterwegs. Inzwischen hat er den Kopf und die Nerven, um mit Frauchen zu interagieren und Signale zu lernen und auszuführen. Er kann andere Hunde oft ruhig ansehen, kommunizieren oder sich abwenden.
Der erste Schritt auf dem Weg dahin war der Schritt des Weniger-machen. Das bedeutet: nicht etwa immer mehr Training, sondern weniger. Das klingt einfacher als es letztlich ist. Und deshalb hat sich Lea dazu bereiterklärt, mit mir hier ein Interview zu führen, das ihren und Pacos Weg beschreibt. Es soll anderen Menschen in ähnlichen Situationen Mut machen, durchzuhalten.
‶Ohne eine Vorstellung, was einem das Ziel bringt, ist das Losgehen schwierig. Aber auch mit der besten Vision des Ziels ist es ein Weg – ein Weg mit Höhen und Tiefen. Und je genauer wir ein Bild von diesem Weg haben, umso sicherer können wir ihn gehen.″ Anja Meier 2020
Anja: Lea, wenn du an die Zeit vor unserem Kennenlernen zurückdenkst, was kommt dir als erstes in den Sinn. Was hat dich damals im Bezug auf Paco am meisten beschäftigt?
Lea: Am meisten beschäftigt haben mich die schwierigen Hundebegnungen zu der Zeit. Paco ist jedes Mal völlig ausgetickt, wenn er einen anderen Hund gesehen hat. Er ist in die Leine gesprungen und hat jeden angepöbelt, selbst wenn der Hund auf der anderen Straßenseite lief. Das war anstrengend.
Foto © Tim ZetzmannPaco steht hier stellvertretend für viele andere Hunde. Seine Reaktion auf andere Vierbeiner kann ersetzt werden durch Reaktion auf Menschen, Autos, Bewegungsreize. Sein rein steigern und das starke Ziehen an der Leine, waren Symptome eines dahinter liegenden Problems. Diese Hunde sind sehr schnell völlig überreizt. Sie kommen mit der Verarbeitung der auf sie einprasselnden Reize nicht mehr hinterher. Und das versetzt sie in Stress. Dabei sind diese Reize bei weitem keine großen Reize. Allein der Geruch eines Hundes, das Kind auf dem Fahrrad, Fußgänger auf dem Bürgersteig oder eine fliegende Papiertüte, können schon zu viel sein. Und dann beginnt oft das Ziehen. Durch diesen Zug steigen die unangenehmen Gefühle an, und damit der Stress. Die Möglichkeit, dass der Hund über das Erlebte und seine Reaktion nachdenkt und sich zurücknimmt, besteht aber nicht mehr, weil der vorhandene Stress das Denken schon blockiert. Ein Teufelskreis, der sich hochschaukelt – Und der nicht nach dem Spaziergang endet. Denn das Cortisol im Körper, der gesammelte Stress, kann zwar ausgeschlafen werden, hält aber auch wach. Wir alle kennen dieses Hormon. Wenn wir zu lange wach bleiben, gegen den Schlaf ankämpfen, kommen wir an einen Punkt, an dem wir uns nicht mehr müde fühlen. Im Gegenteil, uns sogar gut fühlen. Das macht das Cortisol. Und genau das macht es so gefährlich; weil der Hund nicht müde wirkt, sondern im Gegenteil, sogar noch unterfordert erscheint. Cortisol wird allerdings gut nur im Schlaf abgebaut und auch da nur langsam. Ein Hund, der also sehr schnell, sehr viel davon im Körper sammelt, braucht auch sehr viel Schlaf. Aber: er fühlt sich oft nicht müde. Damit beginnt der zweite Teufelskreis, der sich von Spaziergang zu Spaziergang hochschaukelt. Denn wer schon übermüdet ist, reagiert natürlich noch schneller mit Stress auf kleine Reize.
Hunde, die sich in diesem Zustand befinden, können durchaus noch lernen. Und damit hätte ein Training am Symptom wie Leinenführigkeit oder dem Pöbeln gegen andere Hunde sowie Menschen durchaus schon einen gewissen Erfolg. Aber: Lediglich einen sehr dünnen. Nach den ersten Erfolgen geht es schließlich nur noch sehr langsam oder gar nicht mehr voran. Denn auch (nettes) Training – von aversiven Methoden muss ich da gar nicht erst reden – stellt letztlich einen Reiz dar und bedeutet weiteren Stress. Dieser addiert sich nun zu dem bereits erlebten Stress des Spaziergangs, der ja eh schon zu reizvoll war. Das Ergebnis: Das Cortisol im Körper sinkt nicht.
Deshalb ist der erste Trainingsschritt so einfach wie schwierig: Nichts tun.
Anja: Was dachtest du nach unserer ersten Stunde?
Lea: Das wird ein hartes Stück Arbeit :D Ich konnte deine Begründungen und Ansätze absolut verstehen und habe mich geärgert, dass mir das nicht vorher jemand gesagt hat. Es war trotzdem am Anfang eine Herausforderung, sich auf die neuen Ansätze einzulassen.
Der Ansatz für Paco war der gleiche, wie für viele andere Hunde: Kein weiteres Training oben drauf. Stattdessen: Das Management von Situationen und viel positives Feedback fürs einfach-nur-sein. Gleichzeitig das Ermöglichen von viel mehr Schlaf und so wenigen Reizen wie möglich und damit auch so wenig Stress wie möglich.
Und hier kommt der schwierige Teil: “wie möglich”
Was tun, mitten in der Großstadt? Der Hund muss sich ja dennoch lösen und natürlich auch bewegen – vor allem, wenn es sich um einen jungen Hund handelt. Zudem ist ein ständiger Leinenzug weder gut für den Hundekörper, noch für den Stresshaushalt. Selbst am Geschirr wird diese ständige Spannung zur fortwährenden Anspannung. Das Ziehen nun durch einen unangenehmen Reiz zu hemmen, ist unsinnig. Denn durch die Hemmung passiert nichts anderes, als dass der Hund sich vor den Konsequenzen des Ziehens fürchtet. Diese innere Anspannung ist nicht weniger stressig als das Ziehen an sich. Es bringt höchstens noch negative Gefühle dem Halter gegenüber, wenn dieser für das unangenehme Gefühl verantwortlich gemacht wird. Eine kurze Leine sorgt schnell für einen kurzen Zug auf dem Geschirr. Das damit einhergehende vertraute Gefühl führt beim Hund dann wieder schnell zur Erinnerung an den damit verbundenen Stress, und der Stresspegel steigt. Es entwickelt sich ein Kampf. Deshalb gebe ich Menschen wie Lea an diesem Punkt zwei Dinge an die Hand: ein gutes Schleppleinenhandling und jede Menge Pausen mit jede Menge Keksen. Sowohl an der Schleppleine als auch vor allem an der kurzen Leine. Kekse gibt es dabei nicht für “gutes Verhalten”, nicht um zu trainieren, sondern einfach, um Situationen zu managen. Bei Paco sah das zwischendurch so aus, dass bei jedem Reiz, wie zum Beispiel einem nah vorbeilaufenden Menschen, eine Hand voll Kekse auf dem Boden landete. Zeigte Paco die ersten Stressanzeichen, gab es auch dann eine Kekspause. Für viele Hunde beginnt so ein Prozess: eine Spirale raus aus dem Stress. Durch kürzere Gassirunden und gleichzeitig mehr Schlaf, wird der Stresspegel schon etwas gesenkt. Hunde, die vorher nichts fressen konnten oder wollten, können diese Hilfe nach und nach in einigen Situationen annehmen. Dadurch sinkt der Stresspegel immer weiter und die Situationen, in denen diese Managementmaßnahmen angewandt werden können, werden mehr und mehr. Deshalb nicht entmutigen lassen: natürlich wird am Anfang nicht gleich alles klappen.
Anja: Es gab sicher Höhen und Tiefen oder?
Lea: Auf jeden Fall. Die Anfänge in der Schleppleinenarbeit waren anstrengend und mir taten ständig die Schultern weh, weil Paco wie ein Ochse in die Leine gebrettert ist. Außerdem war es frustrierend, dass man nach fünf Minuten an einem neuen Ort nach Hause musste, weil Paco schon überfordert war. Gleichzeitig hab ich aber auch gemerkt, wie er immer mehr zur Ruhe kam und wir immer öfter Situationen ohne Pöbeln lösen konnten.
Anja: Hast du zwischendurch gezweifelt? Wenn ja, was hat dich durchhalten lassen? Wenn nein, was hat dich überzeugt?
Lea: Zweifel gab es auf jeden Fall. Besonders weil einem von außen und zum Teil auch durch die Familie suggeriert wird, man müsse einen Hund täglich ordentlich auslasten und das geht nicht auf 20 minütigen Spaziergängen. Das nagt schon an einem, trotzdem konnte ich aber erkennen, wie gut Paco die kurzen Einheiten tun. Dennoch habe ich einen Hund mit viel Energie, der auch mal rennen will. Ich habe für mich dann den Kompromiss geschlossen, dass Paco mit seiner Hundefreundin Emma rennen und toben darf, wie er möchte, auch wenn er danach ein, zwei Tage brauchte, um wieder zur Ruhe zu kommen. Das habe ich aber in Kauf genommen und konnte so mit einem guten Gewissen auf den restlichen Runden Minimalprogramm fahren.
Was Lea hier beschreibt, ist in vielerlei Hinsicht wichtig. Zwar hat sie sich nicht an mein striktes “nichts machen” gehalten, aber durch das Bewusstsein, weshalb nach Pacos Tobestunden das aufgeregte Verhalten kam, konnte sie damit umgehen. Sie ist nicht in eine Frustfalle geraten und hat immer wieder alles umgeschmissen, sondern hat Paco immer besser kennengelernt. Und damit auch seine Grenzen und seine Bedürfnisse. Auch konnte Lea dadurch die restlichen Maßnahmen durchziehen, ohne sich ständig Selbstvorwürfe zu machen und zu zweifeln. Das ist sehr viel wert und völlig legitim. Ich und andere Hundetrainer/innen können Hunde gut lesen. Wir sehen Zusammenhänge und Ursachen, aber wir kennen deinen Hund dennoch nicht so gut wie du. Und wir werden ihn oder sie auch nach zwei oder drei Terminen nicht so gut kennen. Deshalb ist es so wichtig, was Lea hier gemacht hat: Auf ihre Bedürfnisse und auf ihr Bauchgefühl geachtet und beides mit der Verhaltenstherapie in Einklang gebracht.
Foto © Lea Schröder und Merle Schröder
Anja: Du hast auch das langsame Ranführen an Reize, das Erkennen, wann es zu viel ist und das daraus resultierende Handeln wirklich toll hinbekommen. Kannst du mir ein paar Beispiele geben, wie ihr da ran gegangen seid?
Lea: Wir haben ganz viel beobachtet. Ich meinen Hund, und Paco seine Umwelt. Ich habe versucht, rechtzeitig zu erkennen, wann es Paco zu viel wird und wie sich das äußert. Mit der Zeit konnte ich dann gut abschätzen, was geht und was nicht und die kleinen Signale, die Paco gesendet hat, lesen. Für Paco war es eine riesen Hilfe, sich aus sicherer Entfernung Reize (zum Beispiel spielende Hunde) anschauen zu können. Ganz ohne Druck und so lange er wollte. Zu Beginn fiel ihm das unglaublich schwer und wir brauchten einen großen Abstand. Mit der Zeit wurde es aber immer besser und Paco konnte sich schneller vom Reiz abwenden und wieder seinen Dingen nachgehen. Wann immer Paco sich die Zeit eingefordert hat, Situationen in Ruhe zu betrachten und einzuschätzen, habe ich ihm sie gegeben. Manchmal standen wir 5 Minuten einfach auf dem Gehweg rum, weil Paco etwas in der Nase hatte. Das war aber okay und wir konnten danach entspannt weiter gehen, weil das Thema für Paco beendet war. Außerdem sahen unsere Runden immer gleich aus. Manchmal sind wir die ganze Woche ein- und dieselbe Runde gelaufen. Das hat Paco auch viel Sicherheit gegeben.
Dieses Verhalten von Paco beschreibe ich gern mit “einen Reiz zu den Akten legen”. Jede Situation, jeder Reiz, bekommt im Hundehirn eine eigene Akte, die sein Verhalten bestimmt. Wenn ein Hund einen Reiz, eine Situation, nicht einschätzen kann und mit Unsicherheit oder Stress reagiert, neigen wir dazu, diese Situation schnell verlassen zu wollen. Abstand reinzubringen, ist grundsätzlich erst mal ein guter Plan. Wenn wir allerdings die Situation immer komplett verlassen, oder mit unserem Hund immer weitergehen, obwohl er einen Reiz noch nicht verarbeitet hat, dann bleibt diese Akte immer geöffnet. Es steht keine gesicherte Handlungsoption in der Akte und sie bekommt nicht den Stempel “uninteressant” oder “harmlos”. Und langsam und allmählich stapeln sich die offenen Akten im Hundehirn, wie auf einem unordentlichen Schreibtisch. Und auf diesem Schreibtisch, in diesem Chaos, muss sich unser Hund zurechtfinden und aus den unvollständigen Informationen der Akten eine gute Strategie erarbeiten. Das überfordert schon, bevor es überhaupt losgeht. Nehmen wir räumlichen Abstand, ohne die Situationen komplett zu verlassen, und geben unserem Hund die Zeit, zu schauen, bis er selbst sich abwenden kann und bis er fertig ist – Dann ordnen sich die Akten. Sie werden nacheinander geschlossen, einsortiert und bei Bedarf schnell herausgeholt und eine gute Handlungsoption daraus geschlossen.
Anja: Hattest du ein “Wow, irgendwie ist es jetzt besser”-Erlebnis, oder war es eher ein schleichender Prozess?
Lea: Ich glaube, das kam eher so nach und nach mit vielen kleineren Erlebnissen. Angefangen mit “Oh, mein Hund interessiert sich gar nicht für den Hund auf der anderen Straßenseite” bis hin zu “Wow, wir sind gerade auf kleinem Abstand an einem anderen Hund vorbei ohne zu pöbeln”.
Anja: Wie geht es euch heute? Wie siehst du Paco? Was beschäftigt dich jetzt?
Lea: Paco ist auf jeden Fall deutlich ruhiger und entspannter. Die Pubertät lässt allmählich etwas nach und ich merke, dass unsere Standardrunden ihn nicht mehr geistig so auslasten. Wir können jetzt größere und längere Strecken gehen und nebenbei neue Kommandos trainieren. Ich kann unsere Spaziergänge wieder genießen, weil sie nicht mehr einem Spießrutenlauf gleichen und ich mich nicht permanent umschauen muss, ob uns vielleicht ein Fußgänger kreuzt. Momentan bauen wir Pacos Frustrationstoleranz noch weiter aus und führen neue Kommandos ein, die im Stadtalltag hilfreich sind. Ich denke, wenn er lernt noch besser mit Frust umzugehen, werden auch die Hundebegnungen noch unkomplizierter werden. Diese sind natürlich noch immer ein Thema, aber längst nicht mehr so dramatisch wie noch vor einigen Monaten
Auch das ist ein wichtiger Aspekt: den Grundstress zu senken, das Gehirn wieder ins Denken zu bringen, heißt auch, wieder lernen zu können. An diesem Punkt macht dann als zweiter Schritt gezieltes Training Sinn, sofern dieses noch nötig ist. Was nicht immer der Fall ist, aber natürlich auch sein kann. Die Pubertät hat Paco mit 1 ½ Jahren noch nicht durch, kann jetzt aber besser mit ihr Umgehen und entwickelt sich zu einem souveränen Begleiter in allen Lebenslagen.
Danke an dieser Stelle an dich, Lea! In meinem und Pacos Namen 😍 Ihr seid ein tolles Team und er hat mit dir eine richtig gute Partie gemacht!
Anja Meier https://www.hundeschule-artoflife.de/