Konfrontation statt Training – Reizüberflutung bei ängstlichen Hunden
Das Training von Hunden ist sehr vielschichtig. In einigen Bereichen verwenden wir Methoden aus der menschlichen Psychotherapie, um Verhaltensprobleme zu kurieren. Viele Therapieansätze sind dabei durchaus auf Hunde anpassbar, jedoch längst nicht alle. Flooding (Reizüberflutung) ist eine Methode aus der Therapie für Menschen, von der in der Behandlung von ängstlichen Hunden dringend abzuraten ist. Ich erkläre Ihnen gerne, warum.
Lassen Sie uns zuerst ein Gedankenexperiment machen: Führen Sie sich ihre schlimmste Angst vor Augen – vielleicht das Fahren im Aufzug, in einem geschlossenen Sarg zu liegen, oder mit einem Tier, das Sie in Panik versetzt, in einem kleinen Raum eingeschlossen zu sein. Stellen Sie sich nun vor, jemand, dem Sie halbwegs vertrauen, bringt Sie in eine Situation, in der ihre Angst maximal ausgelöst wird – ohne Vorwarnung, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne Lösungsstrategie, ohne jemanden an Ihrer Seite, der helfen könnte. Eine schreckliche Vorstellung oder?
Vertrauensbruch, Kontrollverlust, Hilflosigkeit – genau das erleben Hunde bei einem Therapieversuch mit Reizüberflutung.
Dennoch gibt es Trainer und Hundehalter die diesen Trainingsansatz wählen – zuweilen wissentlich, manchmal unwissentlich. Dabei werden Hunde, die Angst vor fremden Menschen haben, stundenlang eng mit Menschengruppen konfrontiert. Es werden Hunde, die Angst vor Autos haben, stundenlang an stark befahrenen Straßen angebunden. Oder Hunde, die Angst vor anderen Hunden haben, werden stundenlang einer Gruppe fremder Hunde ausgesetzt.
Ziel dieses Ansatzes ist, dass der Hund sich an den Angstreiz gewöhnt und realisiert, dass es keinen Grund für seine Angst gibt.
Während der Reizüberflutung wird jeder Fluchtversuch des Hundes unterbunden oder verhindert, damit der Hund sich der Situation nicht entziehen kann. Damit dieser Therapieansatz wirkt, muss darüber hinaus die Dauer der Reizüberflutung so lange anhalten, bis der Hund ein Abebben der Angst und körpersprachlich Entspannung zeigt und das kann schon mal ein paar Stunden dauern.
Alle wichtigen therapeutischen Aspekte, die beim Menschen berücksichtigt werden müssen, sind beim Hund nicht umsetzbar.
Zwischen Hund und Mensch kann es kein vergleichbares vertrauensvolles Therapeuten-Klienten-Verhältnis geben. Der Hund kann nicht einwilligen und versteht nicht, was mit ihm geschieht. Er weiß nicht, dass es zu seinem Besten sein soll und er weiß auch nicht, was er tun soll, denn das hat ihm vorher niemand beigebracht.
Ein Mensch kann im Verlauf von Flooding-Sitzungen befragt werden und verbal Unterstützung durch den Therapeuten erfahren. Bei einem Hund können wir über die inneren Zustände nur mutmaßen und seine Körpersprache interpretieren. Darüber hinaus können wir die Wahrnehmung unserer Hunde während der Reizüberflutung nicht beeinflussen. Ob der Hund nach stundenlanger Angst therapiert oder einfach nur erschöpft ist, kann nur vermutet werden.
Startet man eine Reizüberflutung beim Hund, gilt nur noch „Augen zu und durch“, denn ein Abbruch hätte fatale Folgen auf das Verhalten der Zukunft. Überdies muss die Reizintensität durchgehend aufrecht erhalten werden, bis ein Abebben der Angst und Entspannung in der Körpersprache des Hundes sichtbar sind. Dies ist in vielen Fällen gar nicht realisierbar, weil dazu die Situation in allen Facetten zu 100% durch kontrollierte Umgebungsgestaltung gestellt werden müsste.
Reizüberflutung kommt also russischem Roulette mit der Psyche des Hundes gleich.
Der Einsatz dieser Methode ist ethisch und moralisch fragwürdig. Im Tierschutzgesetz steht: „Zweck des Tierschutzgesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf, dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“ (§ 1 TierSchG, www.gesetze-im-internet.de/tierschg).
Angst ist als „Leiden“ nach dem Tierschutzgesetz anerkannt.
Welchen vernünftigen Grund also sollte es geben, einem Tier das Leid einer solchen Therapie aufzubürden?
Wir haben im Training unendlich viele Wege, Angst bei Hunden zu therapieren. Dank Desensibilisierung, Management-Maßnahmen und gutem Training können wir ängstlichen Hunden helfen, ohne dabei gegen das Tierschutzgesetz zu verstoßen. Wir können unseren Hunden helfen, Selbstvertrauen zu gewinnen, um sich mit den Angstauslösern auseinander zu setzen. Wir können ihnen mit Umwelttraining helfen und in extremen Fällen Medikamente einsetzen.
Flooding sollte also kein Mittel der Wahl sein, aus Freundschaft zu unseren Tieren.
Originalbeitrag erschienen auf Canipedia
Autorin
Wibke Hagemann