Hunde aus dem Auslandstierschutz Teil I
Ein Straßenhund zieht ein
Stellen Sie sich vor, Sie seien in einer winzigen Dorfgemeinschaft inmitten des Amazonas-Dschungels aufgewachsen: Strom, Motorfahrzeuge und medizinische Versorgung gab es dort nicht, und ab und zu haben sie Hunger gelitten. Aber anders haben Sie es nicht gekannt.
Ein amerikanisches Ehepaar erhält Kenntnis von ihrer Lage. Es sind wohlmeinende Menschen, denen Ihre Lebensweise höchst misslich und gefährlich erscheint. Sie adoptieren Sie und holen Sie zu sich nach New York!
Dort haben Sie nun ein ein festes Dach über Ihrem Kopf, Strom, Wasser, das sauber aus Hähnen fließt, und regelmäßige Mahlzeiten.
Aber was für eine drangvolle Enge! Was für ein Gestank! Was für ein Lärm! Sie sind wie erschlagen. Am liebsten würden Sie sich in einer Ecke auf den Fußboden kauern und sich die Augen und Ohren fest zuhalten.
Aber Ihre neue Familie möchte Sie in New York willkommen heißen und Ihnen alles zeigen!
Schon beim ersten Schritt aus dem Haus hinein in eine Straßenschlucht, in welcher der Verkehr tobt, möchten Sie beide Fersen fest in den Boden rammen. Aber es geht weiter: Mehr Straßen, mehr riesige Gebäude, mehr Lärm. Sie begreifen nichts von alledem, all das Fremde macht ihnen furchtbare Angst. Sie wollen nur noch eines: Zurück in Ihre Ecke!
Stattdessen sollen Sie nun lernen, eine Schleife zu binden und mit Messer und Gabel zu essen.
So in etwa müssen sich viele der Hunde fühlen, die wir von der Straße oder aus einer Tötungsstation im Ausland zu uns holen.
Diese Hunde wissen nicht, dass es ihnen auf der Straße aus unserer Sicht schlecht ging: Es war, wie es war. Und ebenso wenig ist ihnen bewusst, dass in einer Tötungsstation ihr Leben in Gefahr war. Deswegen sind sie auch nicht dankbar, dass wir sie „gerettet“ haben, auch wenn manche Tierschutzorganisationen das gerne so darstellen möchten.
Alles, was diese Hunde wissen, ist, dass plötzlich alles anders, fremd und beängstigend ist.
Diejenigen, die in der Nähe von Menschen gelebt und diese zum Beispiel erfolgreich um Futter angebettelt haben, sind häufig recht zugewandt, es gibt aber auch solche, die vorwiegend schlechte Erfahrungen gemacht haben, oder den Kontakt zu Menschen womöglich gar nicht gewohnt sind.
Diese Hunde haben Angst. Vor geschlossenen Räumen, glatten Böden, Straßen, Autos, öffentlichen Verkehrsmitteln, Kindern, fremden Männern ... und häufig auch vor uns, was neben den Problemen, die daraus erwachsen auch noch wehtut, wollten wir ihnen doch etwas Gutes tun.
Natürlich gibt es auch unter den Straßenhunden glückliche Gemüter, die in ihr neues Leben starten, als wäre nie etwas anderes gewesen! Leider sind sie sehr selten ...
Sollten Sie ein solches Exemplar erwischt haben, lohnt sich vielleicht noch ein kurzer Blick in Teil IV „Am Anfang lief alles prima!“. Ansonsten dürfen Sie sich einfach glücklich schätzen!
Wie kann ich meinem Hund den Start in sein neues Leben erleichtern?
Lassen Sie ihm Zeit!
Für Sie ist es Ihre Wohnung, in der Sie selbst im Dunkeln nicht gegen die Möbel stoßen – auf ihn prasseln in jeder wachen Sekunde neue Eindrücke ein, die erst einmal verarbeitet werden wollen. Er muss nicht gleich die Nachbarschaft kennenlernen. Wenn Ihr Hund sehr verunsichert wirkt, bieten Sie ihm zunächst einen ruhigen Raum mit einer Liegestelle an. Wir alle benötigen Pausen, Phasen der Entspannung, um neue Eindrücke zu verarbeiten – der Ausdruck „darüber muss ich erst mal schlafen!“ kommt ja nicht von ungefähr – lassen sie ihn also einfach zur Ruhe kommen.
Bleiben Sie ruhig dabei (es sei denn, er kann nicht zur Ruhe kommen, weil er Angst vor Ihnen hat): Setzen Sie sich ruhig hin und lesen Sie ein Buch, oder gehen Sie mit gutem Beispiel voran und dösen Sie ein wenig. Ihr Hund wird Ihre entspannte Stimmung wahrnehmen, was ihm hilft, ebenfalls zur Ruhe zu kommen. Ist er Ihnen gegenüber ängstlich und misstrauisch, wirken Sie so sehr viel weniger beunruhigend.
Gesunde, erwachsene Hunde ruhen ca. 17 Stunden pro Tag, Welpen, alte oder kranke Hunde 20 bis 22 Stunden. Wovon immer Sie auch glauben, dass Ihr Hund das dringend (kennen) lernen müsse:
Gönnen Sie ihm diese Ruhezeiten! Fehlen sie, kann er all das Neue gar nicht verarbeiten.
Kann ich Futter nutzen, um sein Vertrauen zu gewinnen?
Ein Hund, der große Angst hat, ist nicht mehr in der Lage, Futter aufzunehmen – die Reaktion auf angebotenes Futter kann also ein Gradmesser für seine Gefühlslage sein.
Im Zweifel ist schon viel erreicht, wenn der Hund fressen kann, obwohl Sie sich im selben Raum aufhalten.
Häufig wird dazu geraten, den Hund ausschließlich aus der Hand zu füttern ...
Keine schlechte Idee eigentlich, wenn wir Menschen nicht so sehr dazu neigen würden, uns mit dem Futter in der Hand dem Hund frontal zuzuwenden, ihn anzuschauen und uns womöglich, weil er klein ist, auch noch vornüber zu beugen.
In diesem Moment signalisiert unsere ganze Körpersprache „WEHE Du näherst Dich diesem Futter!“ ... und gleichzeitig lassen wir den armen Kerl womöglich Kohldampf schieben, damit er sich auf diese „Vertrauensübung“ einlässt ...
Wenn ich versuchen möchte, einen ängstlichen Hund aus der Hand zu füttern, dann setze ich mich auf den Boden, halte die Hand mit dem Futter hinter meinem Rücken ausgestreckt und schaue in eine andere Richtung. Lässt er sich ohne Zögern darauf ein, freue ich mir ganz klammheimlich ein Loch in den Bauch, versuche aber nicht, „noch einen drauf zusetzen“. Ich behalte diese Position die nächsten Male bei und halte erst später den Arm probehalber mal zur Seite ...
Tut er es nicht, lasse ich ihn ganz sicher nicht hungern, sondern biete andere Lösungswege an.
„Futterbröckchen werfen“ (sowohl von mir als auch von ihm weg) ist einer davon: Ich biete Jagdvergnügen und -erfolg, ohne ihn zu zwingen, sich mir allzu sehr anzunähern. Klappt das, traut er sich später vielleicht, Futterbröckchen aufzunehmen, die ich – mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzend – auf meinen Zehen dekoriert habe.
Und wenn nicht: Dann muss es halt fürs Erste reichen, dass er sich zu fressen traut, während ich in der Nähe bin!
Wie kann ich mich meinem ängstlichen Hund nähern?
Ebenso wie ich einen Hund durch meine Körperhaltung einschüchtern kann, bin ich auch in der Lage, zu signalisieren, dass von mir keine Gefahr ausgeht.
Bewegen Sie sich grundsätzlich ruhig und gelassen, vermeiden sie plötzliche Bewegungen. Machen Sie sich klein, indem Sie sich zum Beispiel hinhocken. Sprechen Sie – wenn überhaupt – leise, ruhig und freundlich. Ich persönlich halte wenig davon, die eigene Harmlosigkeit durch eine hohe, quietschige Stimme demonstrieren zu wollen. Kein Hund der Welt wird mich deswegen für einen Welpen halten. Stattdessen wird er sehr wohl bemerken, dass mein Verhalten unecht ist.
Nähern sie sich auf Umwegen: Machen Sie einen kleinen Bogen, anstatt direkt auf ihn zuzugehen, schauen sie lieber aus dem Augenwinkel, als ihn direkt anzusehen.
Und – sofern es irgendwie möglich ist – überlassen Sie ihm die Initiative.
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Iris Blitz
Hundetrainerin
Lebt heute mit Australian Shepherd Oskar und drei arbeitenden Pyrenäenberghunden auf einem Kastanienhof in Südfrankreich.
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