Iris Blitz |

„ … und dann flippt er plötzlich völlig aus: Rast im Kreis herum, kläfft, springt an mir hoch, beißt in meine Jacke … Was kann ich dagegen tun?“

An dieser Stelle hört man ganz häufig den Rat, den Hund mal richtig auszupowern, da er ja ganz offensichtlich nicht ausgelastet ist. Also werden die Spaziergänge verlängert, Hundekumpels zum Toben gesucht und wenn man das sowieso schon macht, schaut man sich obendrein nach einem Agility-Kurs um oder lässt den Hund am Rad laufen. Oder beides.

Der ist auch mit Begeisterung dabei, flippt aber immer noch aus … dann steckt man beim Spaziergang halt noch den Ball ein, dem hinterherzujagen macht ihm auch sichtlich Spaß.
 Und nicht nur das: Der fordert das richtig ein!


Kaum ist man wieder zu Hause, kommt er und möchte tricksen!
 Nur ruhiger wird er nicht … Weil nämlich umgekehrt ein Schuh daraus wird: Hunde benötigen sehr viel mehr Ruhe, als ihre Menschen sich das häufig vorstellen können.

„Ruhe ist die erste Welpenpflicht“


Je nach Alter und Gesundheitszustand kann und sollte ein Hund im Durchschnitt 17 bis 22 Stunden am Tag ruhen. Also schlafen, dösen, träumen, entspannt herumliegen. Natürlich schadet es nicht, wenn er ab und an auch einmal länger aktiv ist. Wenn Hunde aber dauerhaft zu wenig Ruhe bekommen, reagieren sie wie Kinder, die den richtigen Zeitpunkt zum Schlafengehen verpasst haben: Sie werden immer aktiver, immer wilder, überdrehen schließlich und werden unleidlich.


Das gilt auch für diejenigen Rassen, von denen man immer wieder hört, sie benötigten überdurchschnittlich viel Beschäftigung und Bewegung. Vor allen Dingen gilt es für junge Hunde: 
Die Faustregel für Spaziergänge mit Welpen und Junghunden lautet „5 Minuten Spaziergang pro Lebensmonat am Stück“.

Jahaha, die gucken auch beim Spielen und Toben nicht auf die Uhr, aber im Gegensatz zu einem Spaziergang können sie hier selbst entscheiden, wann sie eine Pause machen möchten. Und so sieht man tatsächlich manchmal Welpen mitten in der Spielstunde einschlafen. Viele Junghunde jedoch haben noch gar kein Gefühl dafür, wann sie genug haben – die muss man irgendwann bremsen bzw. aus der Situation nehmen, damit sie sich erholen können.

„Aber der ist total begeistert dabei!“

… wenn er nicht wollte, müsste er ja nicht? Nun, die meisten Hunderassen haben wir auf Kooperation mit dem Menschen selektiert, auf einen „Will to please“ womöglich, und wenn wir dann mit Leine oder Bällchen winken, dann tun sie uns den Gefallen – auch wenn sie von sich aus eher ein Nickerchen halten würden. Etliche Hunde schaffen irgendwann selbst das nicht mehr: Ohne Hilfe kommen sie nicht zur Ruhe. Ein Teufelskreis beginnt.

„Wenn ich so wenig mit dem machen würde, würde er meine Wohnung auseinandernehmen!“

Das kann durchaus passieren: Wenn ich meinen Hund erst einmal an ein Höchstmaß an Aktivitäten gewöhnt habe und es ihm nicht gelingt, zur Ruhe zu kommen, dann geht der Versuch, das Programm von heute auf morgen auf ein gesundes Maß zu reduzieren, nach hinten los.

Aber soweit muß ich es – vor allem bei Junghunden – ja gar nicht kommen lassen: Wenn mein Hund gegen Ende des Spaziergangs überdreht, dann sollte der nächste kürzer oder/und ereignisloser sein. Dann gibt es das Toben mit anderen Hunden oder den Besuch der Hundeschule nicht obendrein, sondern anstatt.

Wie viel haben wir eigentlich gemacht?

Hier hilft unter Umständen ein Tagebuch, in dem ich notiere, wie lange wir unterwegs waren und was genau wir gemacht haben: Sind wir entspannt in bekannter Umgebung herumgeschlendert, oder waren wir an neuen, aufregenden Orten? Haben wir etwas trainiert oder gespielt? Gab es Hundebegegnungen?

Nicht nur für junge Hunde kann ein Spaziergang, der uns völlig normal vorkommt, eine sehr aufregende Sache sein: Für einen unsicheren Hund kann eine unbekannte Umgebung unter Umständen sehr stressig sein, bei einem anderen sind es vielleicht Hundebegegnungen, und wenn er mit Ängsten zu ringen hat, kann ein Hund auch nach wenigen Minuten völlig ausgepowert sein. Hinzu kommt, dass neu Erlerntes nur dann vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis gelangt, wenn das Gehirn eine Pause bekommt (ein entspannter Spaziergang, oder ein Spiel mit einem guten Kumpel kann eine solche Pause sein, aber das trifft nicht auf jeden Hund zu). Neue Erfahrungen werden im Schlaf verarbeitet: Das gilt für vor allem für Welpen, aber auch für erwachsene Hunde.

Mein Hund Oskar zum Beispiel hat schon als Welpe gelernt, dass Pferde uninteressant sind: Begegnen wir einem, sortiert er sich an der vom Pferd abgewandten Seite neben mir ein und wir gehen ruhig daran vorbei. Ein entsprechendes Signal benötigt er dazu schon seit Jahren nicht mehr.
 Dann jedoch hatten wir Gelegenheit, das Pferd einer Freundin in seiner Box zu besuchen! Zunächst ging er hinter mir in Deckung und nahm mit seeehr langem Hals eine Nase. Einen Moment später wagte er sich näher heran. Und dann senkte das große Tier seinen Kopf zu ihm herab und beschnupperte ihn! Oskar war tief beeindruckt. Da es sich bei dem Pferd um einen gelassenen und freundlichen Zeitgenossen handelte, blieb die Begegnung vollkommen unspektakulär. Aber obwohl wir an dem Tag sonst nichts weiter unternahmen, schlief mein Hund stundenlang tief und fest. So aufregend war das!

Ein Hund ist nicht dann gut ausgelastet, wenn er x Stunden Bewegung und Beschäftigung hatte, sondern wenn er entspannt und zufrieden wirkt. Und auch solchen Hunden, bei denen alles prima passt, schaden gelegentliche Ruhetage nicht. Wobei Ruhetag nicht bedeutet, dass die große Runde heute nur eine Stunde dauert und ich das Üben verschiedener Signale wie „Fuß“ und „Bleib“ heute mal schlabbere. Ruhetag heißt: Wir gehen zum Lösen nach draußen und fertig. Und nein, es wird auch nicht daheim getrickst. Sollte ich einmal so krank sein, dass ich mehr nicht hinkriege, wird mein Hund prima damit klarkommen – er hat ja gelernt, dass an manchen Tagen nichts geboten ist. Das gleiche gilt für die Auslastung vor dem Alleinbleiben: Natürlich ist es angenehmer und weniger langweilig, wenn man sich, während man alleine ist, von einem schönen Spaziergang ausruhen kann. Aber auch hier gilt: Sollte das einmal nicht möglich sein, hat mein Hund es sehr viel leichter, wenn er solche Situationen kennt – also übe ich auch die immer mal wieder.


Und wenn der Vortag anstrengend für ihn war, kommt ein solcher „heute üben wir mal Langeweile!“-Tag oft gerade recht.

Was aber tun, wenn es doch mal passiert?

Das wilde Verhalten mit einem strengen „Nein!“ unterbrechen!


Das Wort „nein“ als solches hat für unsere Hunde zunächst keinerlei Bedeutung – sie müssen erst lernen, was wir ihnen damit sagen wollen: dass wir mit ihrem Verhalten nicht einverstanden sind.
 Die meisten von ihnen lernen es leider dadurch, dass wir einen lauten und scharfen Ton verwenden oder eine Körperhaltung einnehmen, die ihnen bedrohlich erscheint. Oder aber auf das „Nein“ folgt eine unangenehme Konsequenz wie zum Beispiel ein Ruck an der Leine. 
Auch ein Anstupsen „um seine Aufmerksamkeit zu bekommen“ zählt für Hunde übrigens zu den unangenehmen Konsequenzen (und mal ehrlich, die meisten Menschen mögen das auch nicht besonders).


Wir schüchtern sie also ein und hemmen damit ihr Verhalten. Das Problem, welches das Verhalten ausgelöst hat, bleibt jedoch bestehen. Hinzu kommt, dass wir ihnen nicht verraten, was wir denn stattdessen von ihnen möchten. Man kann ein „Nein“ selbstverständlich auch so trainieren, dass man ein erwünschtes Alternativverhalten abfragt, aber beim Überdrehen ist es ja so, dass der Hund das Verhalten zeigt, weil er nicht anders kann – nicht, weil es ihm Spaß machen würde. 
Selbst wenn er es schafft, das erwünschte Alternativverhalten zu zeigen – sein Problem bleibt nach wie vor bestehen.

„Dann lasse ich ihn sitzen oder bei Fuß gehen, bis er sich beruhigt hat.“

„Sitz“, „bei Fuß“ etc. sind Signale, bei denen unsere Hunde aufmerksam und konzentriert ausführen sollen, was wir von ihnen möchten. Gerade in aufregenden Situationen erfordern sie eine Menge Selbstbeherrschung. Hunde überdrehen aber dann, wenn schon viel zu viele Reize auf sie eingeströmt sind. Dann ist schon lange kein Konzentrationsvermögen mehr da! Und Selbstbeherrschung sowieso nicht – sonst würden sie ja gar nicht erst so ausflippen.


Für uns selbst würden wir es in einer solchen Situation vermutlich eher mit einer Entspannungsübung oder wenigstens einem tiefen Durchatmen versuchen, als mit einer Denksportaufgabe.

Bei jungen Hunden kommt noch hinzu, dass besagte Signale noch gar nicht lange genug geübt werden konnten, um in jeder Lebenslage abrufbar zu sein. Oft zeigen sie das Verhalten ja auch in der Pubertät: Da ist selbst das, was vorher prima klappte, plötzlich nicht mehr zu leisten, weil das Gehirn viel zu sehr mit „erwachsen werden“ beschäftigt ist. Im Gegenteil: Es kann durchaus die Pubertät sein, die dafür sorgt, dass Situationen, mit denen sie gestern noch prima klargekommen sind, sie heute überfordern.

Was also tun?

  • Den Hund anleinen.
 So kann ich wildes Herumrasen vorsichtig ausbremsen, ich kann die Leine aber auch dazu nutzen, ihn damit von mir bzw. meinem Jackenärmel wegzuhalten. Wenn es ganz arg ist, leine ich ihn irgendwo an und mache einen Schritt beiseite, so dass er mich nicht anspringen oder beißen kann.

  • Wer neben dem üblichen „Grundgehorsam“ auch schon begonnen hat, ein Entspannungssignal zu üben, ist fein raus und kann dieses einsetzen.
  • 
Wenn die Umgebung es zulässt (also reizarm ist), kann ich mich aber auch einfach einen Moment lang hinsetzen, die Entspannungsübung selber machen und gelassen abwarten, ob mein Hund sich ebenfalls beruhigt.
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Ein paar Futterbröckchen, die er auf dem Boden suchen darf, oder ein Zergel, an dem er sich „abarbeiten“ kann, können dabei durchaus helfen.

  • Das wird umso einfacher, wenn ich solche Entspannungspausen immer mal wieder in unsere Spaziergänge einbaue: Einfach mal innehalten, ein bisschen schnuppern, die Gegend betrachten …
 Sowie es möglich ist, geht es dann auf dem kürzesten Weg nach Hause.

Es kann anfangs schwierig sein, einzuschätzen, wann eine Aktivität besser beendet werden sollte.
 Neben dem Tagebuch hilft es, den Hund sehr genau zu beobachten: Was tut er, kurz bevor er ausflippt?


Oskar fing dann an, irgendwie „trotzig“ und „widerborstig“ zu wirken. Natürlich ist das vermenschlichend, Hunde sind nicht trotzig. Aber die Tatsache, dass er mir so vorkam, war ein wichtiger Hinweis. Wenn er dann noch „Fahrt aufnahm“ – also schneller wurde, obwohl er eigentlich müde hätte sein müssen, war es allerhöchste Zeit, nach Hause zu gehen.

Wenn dein Hund also regelmäßig seine „wilden 5 Minuten“ bekommt, lohnt es sich durchaus, einfach mal einen Gang runterzuschalten und zu schauen, ob es besser wird. Die Methode hat den großen Vorteil, dass du deinem Hund damit auf gar keinen Fall Schaden zufügst. Hätte er einen Infekt oder eine verstauchte Pfote, würdest du es bedenkenlos ganz genauso machen!


Fruchtet das nicht, oder ist das „Hochdrehen“ schon zur Gewohnheit geworden, kann dir ein:e Trainer:in helfen, „blinde Flecken“ im Trainingsplan zu finden und Ruhe gezielt zu üben. Und außerdem einschätzen, ob es womöglich sinnvoll ist, einen Tierarzt hinzuzuziehen, um gesundheitliche Ursachen auszuschließen.
 In den allermeisten Fällen lautet das Zauberwort allerdings tatsächlich „Ruhe“.


Autorin: Iris Blitz

Iris Blitz
, Hundetrainerin
, lebt heute mit arbeitenden Pyrenäenberghunden auf einem Kastanienhof in Südfrankreich.


www.feine-maus.de

Titelbild © Sabine Fehrenbach Fotografie